Musikpräferenzen und die Musik des 20. Jahrhunderts

Musikpräferenzen und die Musik des 20. Jahrhunderts
Musikpräferenzen und die Musik des 20. Jahrhunderts
 
Wenn man nur eine einzige Schallplatte oder CD mit auf die einsame Insel nehmen dürfte, welche wäre es? Gut 60 Prominente des kulturellen Lebens der Bundesrepublik Deutschland von Gerd Albrecht bis Kläre Warnecke, vom Komponisten, Dirigenten und Intendanten Peter Ruzicka 1997 befragt, entschieden sich überwiegend für Musik von der Barockzeit bis zur Spätromantik. Schuberts Streichquintett C-Dur und Wagners »Tristan und Isolde« waren Spitzenreiter, gefolgt von Bachs »Goldberg-Variationen« und Beethovens Violinkonzert. Musik des 20. Jahrhunderts wurde nur singulär genannt; drei Komponisten entschieden sich für Einspielungen eigener Werke. Strawinskys »Le Sacre du printemps« und Alban Bergs Violinkonzert wurden je einmal genannt, von Komponisten nach 1945 Bernd Alois Zimmermanns »Requiem für einen jungen Dichter«, der Mitschnitt eines Cage-Konzerts, eine CD des jungen finnischen Komponisten Magnus Lindberg und ein Liederzyklus des estnischen Komponisten Veljo Tormis. Außerdem Streichquartettmusik von afrikanischen Komponisten mit dem Kronos Quartet und engagierte südafrikanische Musik von Dollar Brand, der sich nach seinem Übertritt zum Islam Abdullah Ibrahim nennt.
 
Im riesigen Überangebot der heute in Konzerten, auf Tonträgern und in den Medien verfügbaren Musik ist es die Instanz des individuellen Musikgeschmacks, die entscheidet, was gehört wird und was nicht. Ob ein Stück Musik geschätzt oder abgelehnt wird, oder ob es einen gleichgültig lässt, hängt von einer Vielzahl von vernetzten Faktoren ab. Die gesellschaftliche Klassifizierung, also Bildung, Lebensstandard und politische Einstellung, hat Entsprechungen in der Lebensgestaltung und der Zugehörigkeit zu bestimmten Milieus und Szenen. Da gibt es Opernfans, Besucher von Open-air-Rockfestivals, Liebhaber der Schützenvereinsmusik und vieles mehr. Diese verschiedenen Gravitationszentren des kulturellen Raums sind durch bestimmte Musikstile geprägt und identifizierbar. Persönliche Musikpräferenzen haben die kaum zu unterschätzende Aufgabe, das eigene Leben nach dem »eigenen Geschmack« einzurichten. Als Ausdruck der eigenen Persönlichkeit wird die Identifizierung mit der geliebten Musik beispielsweise in gut 22 Prozent der Heiratsannoncen in einer Hamburger Wochenzeitung zur Selbstbeschreibung herangezogen.
 
Drei Ebenen lassen sich - kultursoziologisch gesehen - bei der Entscheidung, ob Bergs Violinkonzert oder »Pieces of Africa« ausgewählt werden, unterscheiden, die in der Wirklichkeit freilich nicht notwendig getrennt sind: Distinktion, Lebensphilosophie und Genuss. Der eine mag das Konzert in der Pause verlassen, wenn er hört, anschließend werde Neue Musik, und zwar Bergs Violinkonzert, gespielt: denn Neue Musik klinge »schrecklich«. Ein anderer meint gerade sich von anderen zu unterscheiden, wenn er mit der Partitur unter dem Arm angeregt über Berg, Thomas Manns »Doktor Faustus« und den musikalischen Fortschritt der Zwölftontechnik philosophiert. Ein Dritter, hier der Spezialist für historische Aufführungspraxis Nikolaus Harnoncourt, kürt Bergs Violinkonzert zur Musik für die einsame Insel und wählt hierfür den Mitschnitt der Uraufführung mit dem Solisten Louis Krasner und dem BBC Symphony Orchestra unter Leitung von Anton Webern, 1936: »Habe das Violinkonzert von Berg immer geliebt, weiß nicht warum, dann höre ich diese ungewöhnlich sensible, geradezu romantische Interpretation, und ausgerechnet vom notorisch unromantischsten Komponisten-Dirigenten Webern. Es ist unglaublich schön, und ich muss jetzt viele Maßstäbe neu beschriften.«
 
Seit Mitte des 20. Jahrhunderts ist in bestimmten Teilen und Gesellschaften der Welt der alte Renaissancetraum von der Selbstständigkeit, Freizügigkeit und Ungebundenheit des Individuums Wirklichkeit geworden - jedenfalls, soweit die notwendigen materiellen, sozialen und psychischen Ressourcen vorhanden sind. Die Aufweichung der einen kulturellen Tradition, des einen kollektiven weltanschaulichen Rahmens, der einen Religion, des einen Lebensmilieus stellen viele Einzelne vor die Aufgabe, inmitten des Angebots konkurrierender Lebensstil- und Sinnangebote, konsum-, werbe- und medienorientierten Lebensstilvorgaben zu folgen oder durch Selbstorganisation das eigene Leben zu leben. Die Differenzen und Distinktionen der einzelnen Gesellschaftsmitglieder sind im Spannungsfeld von Lebensstilen und Sozialstruktur auszumachen. Dabei sind neben dem Arbeitsmarkt die Dimensionen und Perspektiven des Erlebnismarktes zunehmend wichtiger geworden. Die Verschiebung vom arbeitsgesellschaftlichen Ideal nach dem Motto »leben, um zu arbeiten« zur Einstellung »arbeiten, um zu leben«, lässt immer mehr eine gegenwartsbezogene Erlebnisorientierung in den Vordergrund treten. Dadurch verschwimmen zunehmend die Gegensätze zwischen ambitioniert-ideellem Kunstanspruch und kommmerziellen Interessen. Was zählt, ist der Erlebnischarakter.
 
Als Schattenseiten dieses gigantischen Erlebnismarktes der Gegenwart mit seinen gesteigerten Wahlmöglichkeiten und immer neuen Erlebniswerten treten freilich Leere, Langeweile, Frust, Einsamkeit und Sinnverlust auf. Unter den Konzertbesuchern lassen sich, gemäß einer Umfrage im Raum Köln, unterschiedliche »Kulturinseln« ausmachen, von der Insel der leichten Muse bis zur Insel für Neue Musik. Dazwischen scheinen die Gewässer überwiegend recht tief zu sein, was ablesbar ist an unterschiedlichsten Statements: bis hin zu »Musik, die verboten werden sollte«. Auf die stärkste Ablehnung stießen Avantgarde-Musik und deutscher Schlager. Größere Zahlen von Grenzgängern zeigten sich nur zwischen modernem Jazz und Rock sowie zwischen Pop und Rock.
 
Grundsätzlich fällt bei der Analyse von Musikpräferenzen auf, dass quer durch alle Musikbereiche Genres mit einer Nähe zu vertrauten Rezeptionsmustern beliebter sind als solche mit einem hohen Komplexitätsgrad: Dixieland wird von weitaus mehr Personen geschätzt als Freejazz, Mainstream-Pop mehr als Grunge-Rock, kommerzielle Folklore mehr als originale Musik aus Dritte-Welt-Ländern, Sibelius mehr als Schönberg. Offensichtlich besteht zwischen Wohlgefallen und struktureller Komplexität keine unmittelbare Beziehung: Zu hohe Informationsdichte wird oft als chaotisch und verwirrend empfunden, zu geringe Komplexität hingegen als langweilig. Was für den Einzelnen aber chaotisch oder vertraut, unerwartet oder erwartet ist, hängt stark von den erlernten Wahrnehmungsschemata, dem musikalischen Bildungsgrad und der musikalischen Mündigkeit ab. Hinzu kommen gesamtkulturelle Schemata, die nur im interkulturellen Vergleich erkennbar werden. Die Ergebnisse einer groß angelegten Befragung von deutschen und amerikanischen Jugendlichen, jungen Erwachsenen und Erwachsenen nach denjenigen Musikrichtungen, -gruppen oder -titeln, die am häufigsten und am liebsten gehört werden, ergab erstaunliche nationale Unterschiede.
 
Nach dieser Befragung sind in Deutschland die Musikpräferenzen noch stärker an der westeuropäischen Kunstmusik ausgerichtet, denn Barock bis Klassik befinden sich innerhalb der ersten elf Ränge. Bei den Amerikanern hat nur die Klassik einen so hohen Stellenwert. Offensichtlich hören sie mehr Unterhaltungsmusik. Hier wie auch in Deutschland ist andererseits die Offenheit von U-Musikhörern (Unterhaltungsmusik) gegenüber E-Musik (ernste Musik) sehr ausgeprägt. Interessant ist auch, dass hinsichtlich der U- und E-Präferenzen die Jugendlichen beider Länder vergleichbare Präferenzen zeigen, während sich bei den jüngeren Erwachsenen in Deutschland eine stärkere Zuwendung zum E-Musikbereich feststellen lässt. Mit zunehmendem Alter wird in den USA immer noch viel U-Musik gehört, während in Deutschland zunehmend traditionelle Musikgattungen bevorzugt werden. Auffällig ist, dass von der Musik des 20. Jahrhunderts ausschließlich Genres aus dem Bereich der Populären Musik genannt werden, während die Neue Musik, die Musik der Kulturinsel »Stockhausica«, bei den befragten »Normalbürgern« diesseits und jenseits des Atlantiks offensichtlich keine Chance hat, gern oder häufig gehört zu werden. Dass im Gegensatz dazu einzelne prominente Kulturschaffende Titel Neuer Musik mit auf die einsame Insel nehmen möchten, wirft wiederum ein Schlaglicht auf die komplexen Wechselbeziehungen zwischen Kultur, Lebensstilen, Sozialstruktur und Musikpräferenzen.
 
Prof. Dr. Hartmut Möller
 
 
Bartosch, Günter: Das ist Musical! Eine Kunstform erobert die Welt. Bottrop u. a. 1997.
 Berendt, Joachim Ernst: Das Jazzbuch. Von New Orleans bis in die achtziger Jahre, bearbeitet von Günther Huesmann. Taschenbuchausgabe Frankfurt am Main 71997.
 Danuser, Hermann: Die Musik des 20. Jahrhunderts. Sonderausgabe Laaber1996.
 Flender, Reinhard und Rauhe, Hermann: Popmusik. Aspekte ihrer Geschichte, Funktionen, Wirkung und Ästhetik. Darmstadt 1989.
 Fordham, John: Das große Buch vom Jazz. Musiker, Instrumente, Geschichte, Aufnahmen. Aus dem Englischen. Neuausgabe München 1998.
 
That's Jazz. Der Sound des 20. Jahrhunderts, herausgegeben von Klaus Wolbert. Neuausgabe Darmstadt u. a.1997.

Universal-Lexikon. 2012.

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